Empathie

Wir alle haben „unsere Knöpfe“, die uns, wenn sie gedrückt werden, explodieren lassen. Wie sollen wir ruhig bleiben, wenn wir es nie gelernt haben, uns in unser Gegenüber reinzuversetzen, wenn wir es nicht schaffen, eine andere Perspektive gedanklich zuzulassen, wenn wir nur in Absolutheiten sprechen, wenn wir nicht Zuhören?

Im Jahr 2010 lud die Künstlerin Marina Abramović Museumsgäste im New Yorker MoMA ein, sich ihr gegenüberzusetzen und ihr „einfach nur“ in die Augen zu blicken – so lange, wie jeder wollte. Viele der Besucher fingen in diesem Moment an zu weinen. Die Künstlerin selbst beschrieb es als einen „Moment, in dem wir nirgendwohin können, als zu uns selbst und so viele Gefühle explodieren“.
Dieses Experiment, das sogenannte „Augenkontakt-Experiment“, ist seitdem vielfach wiederholt worden und steht für das Entstehen von Kontakt. Was passiert, wenn wir Worte weglassen, wenn wir Blicken eine Einladung in unsere Seele geben?

Ich liebe diese Übung und habe neben Tränen und Lachen vor allem eines erlebt: Menschen gehen wirklich in Kontakt miteinander, sie verlassen die Betrachtung von Äußerlichkeiten, Geschlecht, Alter und Religion. Und sie kommen zur Ruhe, zu sich selbst und spüren sich.
Für mich daher eine sehr wertvolle Übung für Empathie.

Wir leben in einer Zeit, in der wir mit so vielen verschiedenen Gedanken und Ansichten in Kontakt kommen. Die Reichweite der Medien macht es möglich, uns alle Lebensweisen zu präsentieren. Dabei geschieht dies häufig gefärbt und je nach Algorithmus konsumieren wir nur noch eine Sichtweise in unserer „Bubble“. Dies führt dazu, dass wir uns nicht mehr in Empathie, Toleranz und Kontakt mit „Andersdenkenden“ üben (müssen).

Wenn wir uns dann plötzlich in einer Diskussion mit starken Meinungsvertretern wiederfinden, die vielleicht sogar unsere Knöpfe drücken und wir uns in unseren Werten bedroht fühlen, dann reagieren wir archaisch nach dem „Fight-or-flight-Prinzip“.
Doch wir können auch einen anderen Weg wählen. Den, der Empathie an die erste Stelle setzt. Echtes Zuhören, ohne dabei parallel schon die Antwort im Kopf zu formulieren. Das Gefühl und die Erfahrung sehen und uns versuchen in unseren Gesprächspartner reinzufühlen.
Als schlagfertigem Menschen fällt mir dies in Extremsituationen (bei rassistischen oder frauenverachtenden Äußerungen beispielsweise) sehr schwer.
Mein Kopf wirft sofort Argumente rein und mein Ego will zurechtweisen und gewinnen. Ich höre nur noch die Worte und verliere den Blick für das Herz.

Empathie und Mitgefühl machen uns aber zu Menschen.
Von Geburt an besitzen wir sogenannte Spiegelneuronen. Babys lernen mit Empathie durch die Augen ihres Umfeldes zu schauen. Erschrecken wir uns, erschrecken sie genauso heftig. Lachen wir, kichern sie sich kugelig.

Bei einer TEDX Veranstaltung in Berlin durfte ich zwei „Peace Maker“ erleben, die mich tief berührt haben: Pastor James Wuye und Imam Muhammad Ashafa aus Nigeria.

Ihnen ist etwas Großartiges gelungen: James und Ashafa waren früher Erzfeinde. Ein muslimischer Milizionär hatte James mit einer Machete die Hand abgehackt, vermutlich einer von Ashafas Männern. Jahrelange Kriege hatten Opfer auf beiden Seiten gefordert. Es schien ein endlos religiöser Konflikt. Racheakte bestimmten den nächsten gegenseitig brutalen Anschlag.

Und jetzt? Arbeiten sie zusammen. Und zwar zusammen für den Frieden. Mit einem beeindruckenden Konzept der Mediation haben sie es nicht nur geschafft, ihre Stämme zu versöhnen, sondern auch international ein Friedensprogramm erfolgreich aufzusetzen. Ihre eigene Geschichte inspiriert dabei besonders stark und gibt Hoffnung für besonders vertrackte Konflikte.

Als ich die beiden auf der Bühne sprechen sah, wirkten ihre Worte tief in meinem Herzen. Hier standen nicht nur zwei Menschen, die über Empathie, Nächstenliebe, Toleranz und Konfliktlösung sprachen. Sie hatten ein erprobtes Konzept entwickelt.
Im Anschluss ihres Beitrags ging ich sofort hin und sprach sie an. Nach wenigen E-Mail-Korrespondenzen versorgten sie mich mit einem Programm für Peace Maker ihrer Organisation Interfaith Mediation Centre (IMC).
Basis des Programms ist der „Reflective Structured Dialogue“. Hierbei geht es vor allem darum, sich als Mensch zu begegnen, nicht in der Identität. Nationalität, Religion und andere Attribute spielen keine Rolle. Jeder spricht als Mensch von Herzen zum Herzen des anderen.
Dabei folgt das Gespräch einem detailliert strukturierten Vorgehen.
Welche Stimme will gehört werden? Die Vorbereitung verlangt einen sicheren und geschützten Rahmen, die Begleitung des Gesprächs durch einen Mediator, Respekt als gemeinsames Abkommen für die Gesprächsgrundlage – Zuhören, nicht Erzählen ist das Ziel! Konkrete Fragestellungen werden genutzt, um Beziehung und Vertrauen aufzubauen. Mit der geführten Gesprächsstruktur nähern sich Menschen und erfahren eine Art inkludierte Teilnahme der geteilten Erlebnisse/Gefühle. Darauf aufbauend entsteht das Verständnis für ein Trauma, bis das Gespräch geführt beendet wird. Das Ziel ist, den Schmerz zu überwinden – dabei bleibt jeder wie er ist.

Mit diesem Workbook in der Hand habe ich einen Empathie-Workshop durchgeführt und nutze seitdem viele der Aspekte in meiner Arbeit und im Kontakt mit Menschen. Immer, wenn ich Gespräche über Empathie führe, Erfahrungen damit teile, sagen mir alle das Gleiche – es fehlt die Übung damit.

Wieso werden solche Dinge nicht unterrichtet? Wir alle haben „unsere Knöpfe“, die uns, wenn sie gedrückt werden, explodieren lassen. Wie sollen wir ruhig bleiben, wenn wir es nie gelernt haben, uns in unser Gegenüber reinzuversetzen, wenn wir es nicht schaffen, eine andere Perspektive gedanklich zuzulassen, wenn wir nur in Absolutheiten sprechen, wenn wir nicht Zuhören?

Wahrscheinlich müssen wir uns einfach immer wieder ausprobieren, unsere „Bubble“ verlassen und den Prozess annehmen. Und wenn wir uns trauen, dann sollten wir mit genau den „Knopfdrückern“ in Austausch gehen.